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Gratiola – Gottesgnadenkraut

 

Diese Krankengeschichte ist entnommen einem Artikel über die Pflanzenfamilie
der Scrophulariaceae oder Braunwurzgewächse, den Dr. Susanne Stoeckl-Gibs für
die Documenta Nr. 20 (erscheint im Oktober 2000) verfasst hat.
Wir werden darin einige kaum bekannte Arzneien finden, Scrophularia nodosa, Digitalis purpurea,
Euphrasia, Leptandra, Linaria usw.
Botanisches und Homöopathisches (u.a. mit Beiträgen von Jan Scholten) soll uns einen
Zugang zu diesen selten in der Homöopathie verwendeten Arzneien öffnen.

 

Raphael H. , geb. 1994, kommt am 3.5.1996 wegen ätzender, stinkender Durchfälle erstmals
in meine Ordination. Die Mutter berichtet, die Stühle seien unverdaut mit aufgelagertem Schleim.
Unter den Haaren des Kindes ist ein Milchschorf zu sehen, es besteht ausgeprägter Kopfschweiss.
Der kleine Bub liebt weiche Eier, ist kälteempfindlich und vom Wesen her eher anhänglich und ruhig.
Erste Verordnung: Calcium carbonicum C30, C200, MK.
Bis August 1996 bleibt Raphael beschwerdefrei nach prompter Reaktion.

Am 18.9.1996 sucht mich die Mutter ein weiteres Mal auf, das Stuhlverhalten hatte sich innerhalb
der letzten Woche wieder rapide verschlechtert, Calcium wirkt nicht mehr.
Der Bub ist sehr reif geworden. Er trägt mit der Mutter ein schweres Schicksal, wie ich in diesem
zweiten Gespräch erfahre.
Raphaels Mutter ist die mittlere von drei Kindern eines katholischen Priesters und einer Volksschuldirektorin.
Zeit ihres Lebens musste die Herkunft ihres Vaters verschwiegen werden, wenngleich doch inoffiziell
immer über die Herkunft der drei Kinder gerätselt und getuschelt wurde. Der Vater ist immer noch in Amt und Würden,
es fehlte ihm der Mut, sich zur Mutter seiner Kinder zu bekennen.
Sein ungelöster innerer Konflikt ließ ihn zum Alkoholiker werden und nach vielen schwierigen Jahren
zerbrach die geheime Beziehung mit der Mutter.
Raphaels Mutter litt am meisten unter der Verleugnung, da der Vater sie aufgrund ihrer ehrlichen und
geradlinigen Art am wenigsten beachtete und wohl am meisten fürchtete.
In der Wiederholung ihres Schicksals suchte sich die junge Frau wieder eine Beziehung mit einem Mann,
der sich letztlich nicht zu ihr bekannte und die Vaterschaft zum kleinen Raphael abstritt.
Bei der zweiten Ordination erzählt mir die Mutter – die übrigens Religionspädagogik studiert –,
dass Raphael derzeit Ordnung über alles liebt – wohl um das innere Chaos ein wenig zu lichten –,
er legt jeden Legobaustein korrekt neben den anderen.
Er liebt Käse und Milch, er tanzt gerne und ist sehr musikalisch. Er fürchtet sich vor Neuem, vor Blumen und Tieren.
Sein Stuhl ist geleeartig, schwarzbraun bis dunkelgrau und stinkend.
Therapie: Carcinosinum C30

Der Stuhl ist nach vier Stunden (!) fest. In der Folge wird Raphael zorniger, er schreit, beißt und schlägt.
Eine Kontrolle am 21.5.1997 erfolgt wieder aufgrund einer Verschlechterung der Stühle, die jetzt fettig sind.
Carcinosinum wirkt nicht mehr, Pulsatilla erleichtert kurzfristig.

Neuerliche Kontrolle am 1.9.1997. Nach einem Besuch bei der Tante, der Schwester der Mutter,
reagiert Raphael wieder mit einer heftigen Diarrhoe, schaumig, grün, geruchlos.
Offenbar spürt der kleine Bub sehr sensibel die krampfhaften Bemühungen seiner Tante, eine
Scheinwelt aufrecht zu erhalten und sich damit in krassen Widerspruch zu seiner Mutter zu begeben.
Der Kampf der Schwestern und die Verleugnung durch seinen Vater lässt ihn aber auch verstummen.
Er spricht nicht in „unserer“ Sprache, er hat seine eigene Sprache entwickelt, der auch seine Mutter
nur ansatzweise folgen kann.
Raphael ist für sein Alter ungewöhnlich intelligent und reif, die Mutter meint, wenn er will,
kann er sprechen, er versteht auch ungewöhnlich viel, aber er weigert sich, mit der Welt zu kommunizieren.
Raphael ist vom Aussehen eine kleine Persönlichkeit – von Gottes Gnaden.
Er betritt stolz den Raum, trägt am Kopf ein mit Gold verziertes „Fuchs-Kapperl“, ohne diesem verlässt er seine Wohnung nie.
Die Repertorisation des grünlichen, schaumigen Stuhles führt mich zu Gratiola officinalis.

Boericke schreibt: „Nützlich bei geistigen Störungen durch anmaßenden Stolz.“
Das stolze, eigenwillige Auftreten des kleinen Buben in einer Familiensituation, die eigentlich von
Verschweigen und Verdecken geprägt ist, bestärken mich, die Arznei in C6 zu verordnen.
Nicht zuletzt erkenne ich im Namen der Pflanze, nämlich Gottesgnadenkraut, einen Wesenszug
des Buben wieder: Er scheint davon überzeugt zu sein, von Gottes Gnaden auf dieser Erde zu sein,
um Ordnung und Klarheit in eine verworrene Familie zu bringen.
Schon am nächsten Tag tritt eine deutliche Besserung der Diarrhoe ein.

Bei einer Kontrolle am 15.9.1997 ist der Stuhl normal und Raphael hat auf beiden Beinen
ein Exanthem bis zu den Kniekehlen entwickelt. Er hatte begonnen, Wörter in „unserer“ Sprache
zu sprechen, war in den letzten Tagen sehr zornig gewesen.
Als weitere Therapie verordne ich Gratiola C30 bei Bedarf.

Ein weiterer Besuch in meiner Ordination über ein Jahr danach, am 2.12.1998, ist überaus erfreulich:
Raphael hatte nie wieder Durchfall gehabt, er spricht seinem Alter gemäß mit mir, ist nach den Worten
seiner Mutter einfühlsam, für andere sorgend und reif. Käppchen trägt er nun keines mehr, aber sein Stolz ist ihm geblieben!

Dr. Michaela Zorzi  veröffentlicht in  HIÖ2/2000

 

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